In einer toxischen Beziehung mit unserer Wortwahl
Immer öfter sitzen mir in der Praxis Menschen gegenüber, deren Probleme bereits mit einer ganz konkreten Selbstdiagnose daherkommen. Aus der Nervosität vor Prüfungen wird eine handfeste Angststörung und die andauernde Unkonzentriertheit kann nur ein Indiz für ADHS sein. Und so spinnt sich das gerade weiter: Der eigensinnige Partner ist ein Narzisst mit dem man in einer toxischen Beziehung lebt, ein mieser Tag macht depressiv, Daddy-Issues und Schattenkinder werden zum Thema.
Nur Schiss oder schon ne‘ Angststörung?
Psychologische Fachbegriffe haben ihren Weg an den Küchentisch gefunden, ins Büro, in die Social Media-Feeds sowieso. Als Systemische Therapeutin freue ich mich darüber, dass Menschen, die sich bisher nicht trauten auszudrücken, was sie seelisch bedrückt, nun dafür Worte finden. Andererseits frage ich mich, wie man das eigene Empfinden überhaupt noch einordnen kann, wenn gefühlt alle alles haben. Denn wenn wir Unpässlichkeiten einer Diagnose zuordnen, entbindet das von Verantwortung. Dann wird aus einem „nicht wollen“, ein „nicht können“.
Dazu erzeugt eine Pathologisierung Drama und Aufmerksamkeit. Dies schafft oft ein verbindendes: „…das kenne ich, das habe ich auch.“ Da aber kein Mensch wie der andere ist, passen auch die beschriebenen Selbstdiagnosen nur selten zusammen.
Was mir Sorgen bereitet, ist der Hang in jedem natürlichen emotionalen Phänomen ein Krankheitsbild zu vermuten. Mit den Symptomen, die google dafür so schön zusammenfasst. Mit einem eigenen Namen. Und mit unzähligen verrückten Beispielen, Stories und dem passenden Influencer dazu.
Ein Hoch auf Deep-Talk
Zugeben zu können: „Ich habe Angst“ (statt Angststörung) „Ich fühle mich richtig panisch“ (statt Panikattacke), „Ich kann mich gerade nicht konzentrieren“ (statt ADHS), „Die Situation hat mich maßlos überfordert“ (statt traumatisiert) – führt ebenso zu Verbindung und Empathie in unseren Mitmenschen. So begonnen, laden wir unser Gegenüber zu echtem Deep-Talk ein. Und der tut uns als Gesellschaft sicherlich seeeeeeehr gut!
Also – wir brauchen gar keinen eloquenten Psychotalk, wir brauchen keine Phrasen. Sie geben dem was wir fühlen lediglich einen fancy Namen. Wichtiger aber ist, überhaupt darüber zu sprechen, was uns weh tut, wütend oder sprachlos macht.